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Die Sache mit der Muße

Warum brauche ich als Autor Muße?



So oft schon habe ich auf die Frage, warum ich an diesem oder jenem Tag nicht schreibe, geantwortet, dass ich einfach keine Muße hatte. Und fast genauso oft blickten mich dann zweifelnde oder fragende Augen an. Ich finde die Antwort selbst unbefriedigend und kann verstehen, wenn manch einer denkt: "Meine Güte, wenn ich für meine Arbeit stets Muße bräuchte, würde ich wohl gar nicht mehr in meinem Job auftauchen."

Deshalb habe ich Lust, diese Erklärung einmal ein wenig aufzudröseln, zu betrachten und mit Sinn zu füllen. "Ich habe nicht die Muße." Was bedeutet das?


Gerade aktuell kann ich es gut an einem Beispiel verdeutlichen. Seit längerem schon habe ich nicht an meinem Buch arbeiten können. Mein anderer Job, eine Krankheit und die Sanierung unseres Hauses in Frankreich haben mich immer wieder davon abgehalten. Das hatte nichts mit Muße zu tun. Ich hatte einfach keine Zeit. Aber oft gibt es Tage, an denen setze ich mich hin und finde nicht richtig in die Geschichte. Im jetzigen Kapitel hat der Protagonist Brendan (mal wieder) ein echtes Problem. Er muss einen seiner Androiden retten, der Gefahr läuft gehackt zu werden und sich womöglich gegen ihn und die anderen der Raumschiffscrew wendet. Er ist mit seiner kampferprobten Arionin Bratula unterwegs auf einem fremden Planeten, in einer ebenso fremden Stadt mit völlig eigenen Regeln und ethischen Grundsätzen. Die Stadt wurde vor einigen tausend Jahren von Menschen besiedelt, und zwar ausschließlich von japanischstämmigen und maorischen Menschen. Zudem hält das Universum, in dem meine Geschichte spielt, bereits eine beträchtliche Historie bereit, denn ich schreibe schon an dem achten Band dieser Reihe und darf längst Geschehenes nie außer acht lassen. Ich muss mich also immer in eine Welt begeben, in der vollkommen andere Bedingungen herrschen als bei mir zu Hause. Es ist außerdem so, je nach Handlung, als schlüpfe ich in die Haut des Protagonisten, des Antagonisten oder einer Nebenfigur, atme dann tief durch und versuche hernach das zu sehen, was diese Figur sieht. Ich schaue auf das Geschehen aus ihrem Blickwinkel und muss dazu eine entsprechende Atmosphäre erzeugen. Das bedeutet, dass ich selbst innerlich bereit, offen und "bespielbar" sein muss. Wie bei dem weißen Blatt Papier auf dem Tisch oder der leeren Seite meines Laptops, muss ich innerlich auch leer sein, um mit Farbe und Inhalt, Klang und Volumen die Geschichte zum Leben zu erwecken. Und doch auch mit all den Voraussetzungen, die innerhalb des Handlungsrahmens schon gegeben sind.

Klingelt das Telefon oder muss der Hund vor die Türe, warten in zwei Stunden Termine bei der Autowerkstatt oder beim Zahnarzt, steht Besuch an oder muss ich noch eine To-Do-List abarbeiten, ist es unmöglich, mich dem hinzugeben.

Ich glaube also, die Muße, von der ich spreche, ist ein gewisser freier Raum um mich herum, körperlich wie geistig, der mir den nötigen Abstand zu allem anderen schenkt, damit ich ganz und gar in das Denken und Handeln meiner Figuren abtauchen kann. Und da ich einer dieser Schreiber bin, die Phasen des "Extremschreibens" haben, sieht sich diese Theorie bestätigt. Habe ich mir nämlich einmal jene Muße geschaffen oder sie sich selbst (was selten geschieht), schreibe ich wie ein Wilder und höre kaum auf.

Muße ist also (für mich) essenziell, um meine Geschichten mit Leben zu füllen.


O. E. Wendt


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